Leseprobe „Tochter des Ozeans“





 PROLOG 

»Yara, Yara, Yara. Ich bin Yara Bright!« Sie wiederholte es wie ein Mantra. Immer und immer wieder. Sie hatte es in der letzten Zeit so oft wiederholt, wie oft genau wusste sie schon gar nicht mehr. Bestimmt tausendmal, aber so weit konnte sie noch gar nicht zählen. »Yara, Yara Bright…« Wenn sie sich schon an nichts anderes mehr erinnern konnte, dann durfte sie zumindest sich selbst nicht vergessen. Das war wichtig, das wusste sie. So viele Dinge hatte sie schon vergessen, zum Beispiel, welcher Tag heute war, ob es immer noch Sommer oder schon Herbst war. Sie konnte sich auch nicht mehr an die blendende Helligkeit der Sommersonne erinnern.


Oder wie es sich anfühlte von ihren Sonnenstrahlen auf der Nase gekitzelt zu werden. Der Geruch von frisch gemähtem Gras und die prachtvolle Vielfalt der bunten Blumen im Garten waren aus ihrem Gedächtnis verschwunden. Aber vor allem wusste sie nicht mehr, wie sie hierhergekommen war. Da war eine dunkle Lücke in ihrem Kopf, die die Erinnerungen daran verdrängte. Ihr fehlte Nähe, körperliche, menschliche Nähe und sie sehnte sich nach Geborgenheit und der Wärme eines vertrauten Heimes. Ihr war kalt, so kalt. Eiskalt! Sie saß zitternd auf dem nackten Betonboden, die Arme um die dünnen Beine geschlungen, die nur in kurzen sommerlichen Shorts steckten. Sie zitterte vor Kälte, aber auch vor Angst, bodenloser, schwarzer Angst, die ihren kleinen Körper packte und durchschüttelte. »Yara… Yara… Mein Name ist Yara.« Ihre piepsige, kraftlose Stimme verlor sich in der schummrigen Dunkelheit um sie herum. Sie wiegte sich vor und zurück und flüsterte ihren Namen wie ein beruhigendes Kinderlied, wie eines das ihr Daddy im Auto mit ihr gesungen hatte, wenn er sie morgens in den Kindergarten gefahren hatte. Ihr Körper war schon ganz steif gefroren und weiße Wölkchen bildeten sich beim Ausatmen in der Luft vor ihrem Gesicht. »Yara, Yara, Yara…« Eine neue Angstwelle ergriff sie und durchflutete ihr ganzes Sein, füllte sie aus bis in die kleinste Zelle. Sie hatte vor so vielem Angst. Davor ihren Namen zu vergessen, Angst vor der Dunkelheit, in der sie saß, und vor allem aber hatte sie Angst vor ihm. Sie verstand nichts von dem, was er sagte oder ihr antat. Sie wusste auch nicht, warum sie hier eingesperrt war und warum er sie nicht gehen ließ. Ihr Verstand begriff das Ausmaß ihrer Situation nur bedingt. Als sie vor Kälte erschauderte, fingen ihre Zähne an zu klappern. Sie schlugen aufeinander und das schaurige Geklapper hallte von den nackten Wänden wider, die sie umschlossen. So sehr sie sich auch bemühte die Zähne aufeinander zu pressen, sie schaffte es nicht, ihr Kiefer hatte sich verselbstständigt. Und dann, mitten in die Dunkelheit hinein, ertönte das Geräusch von schweren Schritten auf einer Holztreppe, die nach unten kamen. Zu ihr. Ihr Herzschlag verdoppelte sich und galoppierte los. Sie schnappte panisch nach Luft. Mit jedem knarzenden Schritt wuchs ihre Angst. »Yara, ich heiße Yara Bright! Yara, Yar… Yaya…« Vor Panik verhaspelte sie sich, verschluckte fast ihre Zunge. Er kam! Was würde er ihr dieses Mal antun? Würde er ihr wieder wehtun, sie auf Knien betteln lassen, sich ganz nah vor sie setzen und sie einfach aus seinen blutunterlaufenen Augen anstarren? Egal was er tat, sie würde wieder ein Stück mehr vergessen und ein bisschen mehr von sich verlieren. Es würde immer so weitergehen, bis sie sich selbst ganz vergessen hatte und verloren war im Würgegriff der Zeit. Jetzt waren die Schritte auf massivem Boden zu hören, kamen immer näher und näher. Sie versuchte nicht zu schreien, das mochte er gar nicht. Aber die Angst, die sich jetzt in ihr Gehirn fraß, war nicht mit der Angst von gerade eben zu vergleichen. Sie war viel schrecklicher und zerstörerischer. Ein Schloss wurde klickend geöffnet. Sie zitterte heftiger. Klick. Ein zweites Schloss wurde entriegelt. Sie bekam keine Luft mehr. Klick. Schloss Nummer drei war offen. Ihr wurde schlecht. Und mit einem lauten Scharren wurde der Riegel zurückgeschoben. Als die Tür geöffnet wurde, war sie halb ohnmächtig vor Angst. Yara, der Name hallte durch ihren Kopf. Gelähmt starrte sie auf den schmalen Streifen Helligkeit, der plötzlich durch den Türspalt sickerte. Flimmerndes Licht der brummenden Leuchtstoffröhren drang ins Zimmer, als die Tür aufgezogen wurde. Von der plötzlichen Helligkeit geblendet, nahm sie nur den verschwommenen Umriss einer großen, hageren Person wahr. Aber das reichte, um sie in Tränen ausbrechen zulassen.


KAPITEL 1 

Eos - Göttin der Morgenröte, fährt in ihrem Wagen über den  Himmel 

Die Helligkeit durchdrang meine geschlossenen Lider und tauchte die Welt für einen Augenblick in rotes Licht. Geblendet blinzelte ich und erspähte durch schmale Augen den Sitz vor mir. Stöhnend richtete ich mich auf und versuchte mich in meinem engen Platz zu strecken. Mir schmerzte der Rücken, als ich mich gerade hinsetzte und als ich versuchte meine Glieder zu dehnen, stieß ich mit den Knien gegen den Sitz vor mir. Meine Zunge fühlte sich pelzig an. Igitt. Immer noch leicht benommen zog ich die verrutschte Schlafbrille vom Kopf und stopfte sie in die dazugehörige Netztasche. Die Ohropax ließ ich aber lieber in den Ohren, denn das laute Brummen der Maschine hörte ich sogar durch sie hindurch. Verschlafen ließ ich meinen Blick durch das Flugzeug schweifen, das sich in dreizehntausend Metern Höhe über dem Erdboden befand. Die meisten Leute um mich herum waren wieder wach, schauten Filme oder unterhielten sich leise miteinander. Der kleine Quälgeist von Platz 30E hing seinem müde aussehenden Vater schlafend über dem Schoß und sabberte. Einige Passagiere hatten sogar schon das Frühstück vor sich stehen und ich sah die zwei rothaarigen Stewardessen mit ihrem Getränkewagen den Gang runterkommen. Wasser! Ich brauchte Wasser. Die Schlaftablette hatte ganze Arbeit geleistet und mich mehrere Stunden außer Gefecht gesetzt. Ein Zustand, der mir absolut zuwider war, konnte doch jeder in solchen Momenten mit mir machen was er wollte. Ich hasste es, die Kontrolle zu verlieren. Und noch mehr hasste ich meine Paranoia, die mich immer wieder an meine Grenzen brachte und mich in den Wahnsinn trieb. Etwas, das ich über die Zeit hinweg zu verbergen gelernt hatte und das niemals an die Oberfläche drang, wenn ich es nicht zuließ! Naja, meistens jedenfalls. Manchmal überkam mich eine Welle der Angst ganz unerwartet und erwischte mich eiskalt. Meine eiserne Regel lautete: Lass die Leute nicht sehen, wie verrückt du wirklich bist. Nichtsdestotrotz war das hier mein erster Flug und meine Psychologin war der Meinung gewesen, dass jemand wie ich es besser ertragen würde, wenn man mich ruhigstellte. In kleinen Schlucken genoss ich das prickelnde Wasser und schaute aus dem Fenster, hinaus auf die schneeweißen Wolken unter uns. Ich konnte das Land in der Tiefe nur schwer ausmachen, aber es sah jetzt schon ganz anders aus als meine Heimat. Brauner und trockener. Und viel, viel größer. Manchmal war es immer noch unvorstellbar für mich, dass all das Wirklichkeit war. Es war wie ein riesengroßes, buntes Geschenk nur für mich alleine. Und selbst jetzt, mehr als drei Jahre danach, wollte oder konnte ich mich immer noch nicht daran gewöhnen, aus Angst, dass man es mir gleich wieder entreißen wollte. Das war ein Grund, weshalb ich so minimalistisch wie möglich lebte. Ich besaß weder ein Smartphone noch einen MP3-Player oder anderen technischen Schnickschnack. Von der neusten Mode hatte ich keinen blassen Schimmer und es war mir auch egal. Es war nicht wichtig. Das Einzige, aus dem ich mir wirklich etwas machte, waren Bücher. Es fühlte sich gut an, ein schweres gebundenes Buch in den Händen zu halten, die Seiten zwischen den Fingern zu spüren und mit der Fingerkuppe über die gedruckten Buchstaben zu fahren. Ein Buch war für mich wie ein Anker und eine Möglichkeit, in eine andere Welt abzutauchen und zu entspannen. Und Entspannung war etwas, das meine kaputte Seele brauchte. Doktor Jones war der festen Überzeugung, dass mich zu viel Hektik und Unruhe aus der Fassung bringen und mich um Längen zurückwerfen würden. Und recht hatte sie, Horrorfilme zum Beispiel waren in der Tat der blanke Horror für mich. Noch Wochen nachdem Mallory, meine Zimmernachbarin, mich gezwungen hatte, heimlich mit ihr ›Chucky die Mörderpuppe‹ anzuschauen, war ich am helllichten Tag von Panikattacken heimgesucht worden. Man fand mich jedes Mal zusammengekauert unter der Treppe sitzend, nachts war ich mehrfach schweißgebadet und schreiend aus einem Albtraum aufgewacht. Mallory war tatsächlich das pure Unglück für mich gewesen. Noch eine Woche zuvor hatte Doktor Jones die Medikamente vorübergehend abgesetzt, wegen guter Fortschritte. Aber nach dem Vorfall hatte sie mich, ohne zu zögern, wieder unter ›Drogen‹ gesetzt und hatte dieses Mal sogar die Dosis verdoppelt. Und ich hatte meine lieben kleinen Helferlein, wie Doktor Jones das Bromazepam nannte, brav geschluckt. Die Albträume verschwanden, aber die Panikattacken bei Tag blieben. Abgesehen von der leichten Verwirrtheit und dem verringerten Gefühlsempfinden plagten mich immer häufiger Halluzinationen. Die Wände schienen mich auszulachen und es war jenes männliche Lachen, das ich jahrelang gefürchtet hatte, denn es war der Vorbote für seine schlechte Laune gewesen, die er immer an mir ausgelassen hatte. Oder ich hörte schwere Schritte auf der Treppe, vor denen ich dann panisch davonrannte. Manchmal rannte ich soweit ich konnte. Und das war im Fall des Florence-Nightingale-Instituts für Bekloppte und ganzheitlich Irre ein beträchtliches Stück. Ein weitläufiger Park umgab das rote Backsteingebäude, damit die Verrückten von der offenen Station frische Luft schnappen oder verträumt auf einer der Bänke unter den Weiden sitzen konnten. Der Park war von einer großen Mauer umgeben, die mit Stacheldraht abgesichert war. Bis dorthin floh ich und warf mich blind vor Angst gegen den Stein, kratzte mir die Finger wund und kassierte jedes Mal eine Nacht in der Gummizelle dafür. Mallory wurde in eine andere Einrichtung versetzt, nachdem man den Film bei ihr fand. Ich vermisste sie nicht. Bei der Landung in Portland erbrach ich mich in meinen Spuckbeutel und blieb länger als alle anderen im Flugzeug sitzen. Ich wartete darauf, dass sich mein Magen beruhigte. Ich fühlte mich, wie nach dem ersten Mal als ich Bromazepam eingenommen hatte. Elend, einfach nur elend. Eine Stewardess brachte mir stilles Wasser und redete sanft auf mich ein. Es war keine der beiden rothaarigen. Schließlich musste ich das Flugzeug doch verlassen und gelangte mit wackeligen Beinen über die Gangway ins Innere des Flughafens. Dort roch es nach schlechtem Männerparfum und Reinigungsmittel. Mein Magen rebellierte. Während ich an der Gepäckausgabe in der großen Halle auf meinen kleinen Koffer wartete, behielt ich die Leute im Blick. Ich war noch nicht lange auf freiem Fuß und fühlte mich in der Öffentlichkeit immer unwohl und beobachtet. Ich konnte jeden neugierigen Blick wie Spinnenbeine auf meiner Haut spüren und das Getuschel der Leute drang in meine Ohren. Ich kratzte mich am Oberarm und warf einen nervösen Blick über die Schulter, nur um festzustellen, dass meine Paranoia mich fest im Griff hatte. Keiner starrt dich an, beschwor ich mich selbst. Ich schüttelte den Kopf wie ein Hund, um das Pfeifen in meinen Ohren loszuwerden. Das hier war nicht das verfluchte Kaff Hexham, Northumberland in England. Hier kannte mich kein Mensch. Niemand wusste, wer ich war. Für die Reisenden war ich nur ein x-beliebiges Mädchen, mittlerer Größe und mit zu dünnen Beinen, das bestenfalls im Weg stand. Die Leute nahmen nach und nach ihr Gepäck auf und verschwanden, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Es war ein wunderbares Gefühl so ignoriert zu werden. Schließlich spuckte das Band meinen kleinen Koffer aus, den ich mit Leichtigkeit anhob und hinter mir herzog. Gleich würde ich meine Adoptivfamilie treffen, meine neue Familie. Die einzigen Menschen wohlgemerkt, die ich mit dem Begriff Familie in Verbindung bringen konnte. Ich war mäßig aufgeregt. Ich kannte Brenda und Dan bereits. Sie hatten mich zweimal in England besucht, das erste Mal waren sie zu zweit gekommen und eine Woche geblieben. Das zweite Mal hatten sie ihre Tochter Delilah mitgebracht. Brenda und Dan mochte ich von Anfang an, sie lachten und redeten viel, nannten mich Darling und Sweety und umarmten mich ständig. Etwas, das ich selten zuließ, normalerweise hielt ich mir Menschen vom Leib. Körperliche Nähe und Berührungen vertrug ich ungefähr so gut wie Horrorfilme. Nämlich gar nicht. Vor allem wenn es ein Mann war, der mir zu nahekam. Meinem ersten Psychologen in Hexham, Professor Doktor Bird, hatte ich in die Hand gebissen, nachdem er versucht hatte meine Schulter zu tätscheln. Brenda und Dan aber waren sanft und strahlten eine Geborgenheit aus, bei der ich mich sofort wohlfühlte. Vor allem Brenda hatte ich ins Herz geschlossen. Ein gutes Zeichen, wie Doktor Jones fand. Ihre Tochter war sehr still gewesen und ich glaube, dass die Irrenanstalt und ich ihr ziemliche Angst eingejagt hatten. Die nächsten Tage kam sie nicht mehr zu Besuch und ich hatte ihre Eltern für mich alleine.

KAPITEL 2 

Helios - Sonnengott, lenkt den Sonnenwagen über den  Himmel, folgt der Eos

Zielstrebig steuerte ich auf die Empfangshalle zu, passierte eine letzte Schiebetür und fand mich in einer großen sonnendurchfluteten und lärmigen Halle wieder. Überall standen Menschen, redeten durcheinander und freuten sich lautstark über das Wiedersehen, kleine Kinder schrien und… »Clara! Hier drüben.« Ich reckte den Hals nach der Stimme, war aber zu klein, um über das Gedränge hinwegsehen zu können. Ich wurde einfach von der Masse mitgezogen und weiter zum Ausgang gedrängt. Links rempelte mich eine Frau an und von hinten trat mir jemand auf die Ferse. Vollidioten. In meinem Inneren spürte ich, wie meine Klaustrophobie in mir aufkeimte. Meine Eingeweide zogen sich zusammen und das Blut rauschte in meinen Ohren. Ich hatte plötzlich das Gefühl zu groß für meinen Körper zu sein und bekam Schweißausbrüche. Mit einem erstickten Schrei machte ich einen Satz nach vorne, drängte mich grob an den Leuten vorbei, setzte meine Ellenbogen ein und erkämpfte mir meinen Weg aus dem Gewühl. Hinter mir protestierte jemand. Leck mich doch! Ich erreichte den Ausgang, stolperte ins Freie und rang gierig nach Sauerstoff. Dicke Abgase erfüllten meine Lungen. Autos, Shuttles und Taxis verpesteten die Luft um mich herum. Aber allemal besser als die Enge der Empfangshalle. Ich wollte da nicht wieder rein, aber ich musste meine neue Familie finden, die sich bestimmt schon wunderte, wo ich war. Wo ihre verrückte Adoptivtochter steckte. »Clara, Sweety«, Brenda tauchte vor mir auf, ihr Blick war besorgt, »Wo läufst du denn hin?« Ich suchte nach den richtigen Worten, um mein seltsames Verhalten zu erklären. Ich fand sie nicht, aber Brenda verstand mich scheinbar auch so. Sie drückte mich an sich, typisch für sie und ich atmete ihren frischen Geruch ein, der den Knoten in meinem Magen ein wenig löste. »Es ist so schön, dass du jetzt hier bist. Wir haben uns alle so auf dich gefreut. Ich hoffe, du hattest einen guten Flug, Darling«, sagte Brenda sanft und schob mich auf Armeslänge von sich, um mich eingehend zu mustern, und lächelte schließlich. »Warte hier, ich hole Dad. Dann können wir zusammen nach Hause fahren.« Nach Hause. Wie das klang. Fremd, neu und sehr verlockend. Ein letztes Mal betrachtete sie mich, als frage sie sich, ob sie mich hier alleine warten lassen könne, ohne dass ich ausflippte, und verschwand dann wieder durch die Glastüren. Den Großteil der Autofahrt starrte ich aus dem Fenster, betrachtete voller Neugier die Landschaft, die an uns vorbeizog. Oregon war wunderschön und erinnerte mich an Zuhause, aber gleichzeitig war hier alles fremd und neu. Außerhalb von Portland säumten dichte Laubwälder die breiten Highways und die Sonne schien durch die Blätter und Äste. Ich hatte mir die Westküste Amerikas anders vorgestellt. Trockener, brauner und irgendwie karger. Aber alles war grün und blühte, so wie in England, und trotzdem sah hier die Natur anders aus. Andere Bäume und Pflanzen. Alles anders. Alles neu. Alles fremd! Ich schluckte die aufkeimende Angst hinunter und summte, mit geschlossenen Augen, leise die Melodie von ›Walk in the Sun‹. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam und ich konnte wieder aus dem Fenster sehen ohne in Panik auszubrechen. Wir entfernten uns immer mehr von der großen Stadt und die Gegend veränderte sich, wurde ländlicher und mehr so wie ich es mir vorgestellt hatte. Links und rechts von der Landstraße erstreckten sich weitläufige gelbe Felder und braune Äcker, weiße Farmerhäuser mit braunen Dächern wechselten sich mit Kuhund Pferdeweiden ab. Die ganze Landschaft wurde von der Sonne erleuchtet und wirkte unwirklich, fast wie die gemalte Kulisse eines alten Films. Weniger grün, dafür aber mehr satte, trockene Töne. Im Vergleich zu England hätte man die Landschaft hier tatsächlich als karg bezeichnen können, auf mich aber übte diese Welt ihren ganz eigenen Zauber aus. Ich sah mich schon im Westernsattel sitzend über die weite Prärie reiten und träumte von einem kleinen Häuschen wie in ›Unsere kleine Farm‹, mit Hühnern und Schafen und einem Stall voller Kühe. Ich blinzelte und das kleine Haus löste sich in Rauch auf, dafür eröffnete sich wieder eine neue Landschaft vor mir und ich setzte mich aufrechter hin. Wir fuhren jetzt mitten durch den Tillamook State Forest. Riesige Douglasien mit dicken Stämmen und tiefen Grüntönen wuchsen aus der Erde und säumten die Straße. Ein breiter Fluss schlängelte sich eine ganze Weile neben dem Wilson River Highway entlang, verschwand und tauchte wieder auf. Das klare grüne Band begleitete uns fast bis zum nächsten Ort, zweigte dann nach rechts ab und verließ uns. In den letzten Stunden hatte ich beinahe mehr von der Welt und ihrer Beschaffenheit gesehen als in meinem gesamten bisherigen Leben. Das stimmte mich gleichermaßen aufgeregt, wie sentimental. Wir erreichten Tillamook, ein hübsches kleines Städtchen mit vielen Touristenläden und einer Fabrik mit dem Namen ›Tillamook Cheese‹ in dicken käsegelben Lettern, fuhren rechter Hand weiter auf dem Oregon Coast Highway und näherten uns der Küste. Ein Straßenschild warnte vor Tsunami Gefahr und verwies auf eine Tsunami Evacuation Route. Ich musste grinsen, meine verschrobene Fantasie ging mit mir durch und ich stellte mir schreiende Menschen vor, die panisch wegrannten, im Hintergrund eine riesige, dunkle Welle… »Jetzt sind wir gleich da. Nur noch wenige Minuten und du siehst dein neues Zuhause«, unterbrach Dan mein Gedankenspiel. Er freute sich richtig und Brenda, die Mom genannt werden wollte, schaute lächelnd zu mir nach hinten. Ich konnte nur nicken, denn plötzlich geschah etwas mit mir. Ein Loch öffnete sich unter meiner Brust und raubte mir beinahe den Atem. Ein Ziehen breitete sich in meinem Körper aus, etwas zog und zerrte an einem inneren Punkt. Links neben dem Highway hatte sich der Tillamook Bay eröffnet, wie Mom mir erklärte. Erst hielt ich es für einen großen See, doch dann erkannte ich das Meer. Mir blieb die Luft weg. Das Meer war unfassbar schön, endlos weit und tief blau. In meinem ganzen Leben hatte ich noch nie etwas Vergleichbares gesehen. Mit jedem Stück, das wir dem Wasser näherkamen, wurde der Sog in mir stärker, etwas schien nach mir zu rufen. Und ich, die noch nie am Meer gewesen war, geschweige denn darin geschwommen war, verspürte den sehnlichen Wunsch, über den Strand zu laufen, den Sand unter meinen Füßen zu fühlen und mich schließlich in die Wellen zu stürzen. Ich wurde ganz hibbelig und konnte mich kaum noch auf meinem Sitz halten. »Dan, Bren… Mom, können wir kurz am Meer halten, bitte?« Ich sah im Rückspiegel wie Dan die Stirn runzelte. »Ich war noch nie am Meer«, fügte ich hinzu und hoffte, dass das als Erklärung reichte. Ich hatte Glück. »In Ordnung, aber nur kurz. Du bist sicher erschöpft und möchtest dein neues Zimmer sehen.« Dans Stimme war weich und er zwinkerte mir durch den Rückspiegel zu. Ich lächelte zurück. Nein, erschöpft war ich nicht. Ich war platt von dem langen Flug, aber erschöpft nicht. Vielmehr war ich nun hellwach vor Aufregung. Wir fuhren in Rockaway Beach ein, einem niedlichen kleinen Ort mit vielen bunten Häuschen entlang der Straße. Wäre ich nicht ganz wo anders mit meinen Gedanken gewesen, dann hätte mir dieser kleine, süße Ort bestimmt gefallen, aber so starrte ich nur auf das wogende Meer, das immer wieder zwischen den einzelnen Häusern auftauchte und mir zuzuzwinkern schien. Der Wind blies kräftig, sodass kleine Schaumkrönchen auf den Wellen tanzten, die bei jeder Bewegung in der Sonne glitzerten. Dan bog in eine Straße ein und parkte den SUV auf einem breiten Parkplatz hinter einer Düne. Ich zögerte eine Sekunde, dann schnallte ich mich mit fahrigen Fingern ab, stieß die Tür auf und sprang aus dem Wagen. Kühle, windige Luft umfing mich, zog einzelne Strähnen meiner Haare aus dem Dutt, peitschte sie mir ums Gesicht und fuhr in meine Kleidung. Sie schmeckte salzig auf meinen Lippen und ich roch den würzigen Duft der Strandpflanzen, die auf den Dünen hin und her wogten. Meine Schuhe versanken im weichen Sand, als ich die Düne emporkletterte, die mir die Sicht auf den Ozean versperrte. Die Aussicht war umwerfend. Einen Augenblick lang verharrte ich auf der Kuppe, den Blick auf das wogende Meer nur wenige Meter vor mir, gerichtet. Das Wasser schimmerte in allen Farbnuancen von Grün über Türkis bis hin zu einem tiefen Blau. Es war überwältigend das Rauschen in den Ohren zu hören und dem Spiel der Wellen zuzuschauen, auf und ab, Wellenberg und Wellental. Weiter draußen ragten zwei hohe Felsen aus dem Meer, an denen sich die rauen Gezeiten des Pazifiks brachen und in schaumigem Wasser brandeten. Dort draußen war das Wasser dunkelblau, fast schwarz. Der Sog in meiner Brust hatte sich ins Unermessliche gesteigert und tat fast schon weh, so sehr sehnte ich mich nach dem kühlen Nass. Diese Gefühle jagten mir Angst ein. Ich war kein Mensch mit Sehnsüchten oder innigen Wünschen, ich nahm das Leben wie es kam. Denn ich wusste, mehr als jeder andere, wie schnell es vorbei sein konnte. Und doch stand ich hier, mit einem unbändigen Verlangen im Herzen. Kurz schloss ich die Augen und gab mich der Sehnsucht hin, ließ das Rauschen der Wellen auf mich wirken und atmete die salzige Luft. Dann ballte ich die Hände zu Fäusten und grub die Fingernägel in die Haut, holte tief Luft und riss den Blick von den blaugrünen Wellen, dann rannte ich zurück zum Auto. Jetzt war ich erschöpft und unglaublich müde. Ich lehnte den Kopf an den Sitz und schloss die Augen.

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